Weniger Patienten in den Notaufnahmen, aber Anstieg der kardialen Sterblichkeit
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Statement Priv.-Doz. Dr. Sebastian Ewen, Homburg/Saar
Im Februar 2020 kamen die ersten Patienten mit COVID-19 auf die Intensivstationen in Deutschland. Hochrechnungen basierend aus den Infektionszahlen im Frühjahr ergaben, dass im Sommer bis zu 64 % der verfügbaren Intensivbetten für COVID-19-Patienten benötigt werden könnten, wenn die Infektionszahlen nicht reduziert werden können. In der Organisation der Notaufnahmen haben wir uns daher auf ein großes Patientenaufkommen, auch an COVID-19-Erkrankten, vorbereitet. In den Notaufnahmen wurden getrennte Bereiche für mit „SARS-CoV-2-infizierte-“ und „Nicht-infizierte-Patienten“ geschaffen. In Homburg haben wir am Anfang der Pandemie ein Zelt in der Liegend-Einfahrt eingerichtet, in dem alle Patientinnen und Patienten, egal ob durch den Rettungsdienst transportiert oder selbst in die Notaufnahme gekommen, zunächst mit einem Risiko-Bogen auf Symptome einer potenziellen SARS-CoV-2-Infektion evaluiert wurden. Als dann im Herbst 2020 die Schnelltests zur Verfügung standen, haben wir im Eingangsbereich der Notaufnahme einen separaten Raum zur Durchführung der Nasen-Rachen-Abstriche eingerichtet, in dem die Patienten falls medizinisch und vom Patientenaufkommen möglich, auch bis zum Testergebnis verweilen konnten. Je nach Ergebnis des Schnelltests werden sie dann in einem „isolierten/SARS-CoV-2-positiven Bereich“ oder einem „öffentlichen/SARS-CoV-2-negativen-Bereich“ weiterbehandelt.
Entgegen der Prognosen sind allerdings im Frühjahr 2020 deutlich weniger Patientinnen und Patienten in die Notaufnahmen gekommen als in den Vorjahren. Aktuelle Daten des Robert-Koch-Instituts und eine Vielzahl von nationalen und internationalen Publikation zeigen jedoch eine konsistente Reduktion der Notaufnahmekonsultationen von ca. 40 %. Das ist ein Trend, der völlig gegenläufig zu der Entwicklung der letzten zehn Jahre ist, während denen wir einen kontinuierlichen Anstieg von Fallzahlen in den Notaufnahmen in Deutschland gesehen haben.
Die Gründe für den Rückgang kann man nur vermuten. Ein Erklärungsansatz wäre, dass Patienten aus Angst vor einer SARS-CoV-2-Infektion nicht mehr in die Krankenhäuser kamen. Wir haben zu dieser Zeit in den Medien die schrecklichen Situationen aus New York, Nord-Italien und Wuhan gesehen.. Über den Sommer hat sich die Situation dann weitestgehend normalisiert. In den Sommermonaten kamen die Patienten erneut zu uns in die Kliniken, deren Erkrankungen im Frühjahr noch nicht akut lebensbedrohlich waren. Es gab allerdings eine ganze Reihe von Patienten, die schlicht unterdiagnostiziert waren. Als die zweite Inzidenzwelle einsetzte, sanken die Zahlen wieder und wir haben in unserer Notaufnahme auch jetzt noch ein um 10-20 % geringeres Patientenaufkommen als im Vergleichszeitraum der Vorjahre.
Wozu führte diese Entwicklung? Wir haben Daten aus Hessen vorliegen, die belegen, dass ein Anstieg der kardial bedingten Mortalität zu verzeichnen war. Was wir auch gesehen haben, ist das die Zahl der Eingriffe in den Katheterlaboren dort um 35 % zurückgegangen ist. Gerade bei Fällen des akuten Koronarsyndroms, zu dem auch der akute Myokardinfarkt zählt, retten Kathetereingriffe Leben. Wir wissen aus einer Untersuchung aus Hamburg auch, dass die Zahl der Herzinfarktdiagnosen um 15 % gesunken ist und die der Schlaganfall-Diagnosen um 10-15 %. Es sind vor allem die „milderen“ Formen dieser Ereignisse, die wir in den Notaufnahmen weniger gesehen haben. Das bedeutet, dass Patienten mit geringen Symptomen nicht zum Arzt gegangen sind, sondern ihre Beschwerden viel mehr mit sich selbst zu Hause ausgemacht haben. Das wiederum hatte zur Folge, dass die Out-of-Hospital-Mortalität im Lockdown deutlich angestiegen ist. Zwölf Prozent mehr Menschen als im Vorjahr sind außerhalb des Krankenhauses verstorben. Doch starben sie an COVID-19 oder an nicht behandelten Ereignissen wie einem Herzinfarkt oder Schlaganfall? Dies lässt sich klar beantworten: Nur 10 % der Reanimationen, die außerhalb des Krankenhauses stattgefunden haben, ließen sich mit COVID-19 in Verbindung bringen. Innerhalb des Krankenhauses waren es 16 %. Im gesamten Jahr 2020 gab es etwas weniger Reanimationen als noch 2019, allerdings nicht statistisch signifikant. Die In-Hospital-Mortalität war 2020 höher als 2019. Auch andere kardiale Erkrankungen wurden 2020 seltener diagnostiziert. Während der ersten zweieinhalb Monate des vergangenen Jahres noch erwartbar viele Herzinsuffizienz-Diagnosen gestellt wurden, ging diese Zahl während des Lockdowns sehr deutlich zurück. Auch hier ist eine Unterdiagnostizierung zu vermuten, weil bspw. weniger bildgebende Diagnostik eingesetzt wurde. Häufig kommen diese Patienten mit Luftnot daraus resultierend Husten in die Klinik, was direkt einen COVID-Verdacht aufwirft.
Abgesehen von den kardialen Erkrankungen kann ich von zwei durch Zahlen belegte Beobachtungen aus den Notaufnahmen berichten: Einlieferungen in die Notaufnahme aus psychischen Gründen, bspw. Alkoholintoxikationen oder Suizid-Versuche sind gegenüber den Vorjahren ebenfalls deutlich zurückgegangen, nicht ganz so stark allerdings wie das Patientenaufkommen insgesamt.
Ebenfalls weniger als erwartet haben wir Einweisungen wegen häuslicher Gewalt gesehen. Die Fallzahl ist während des Lockdowns nicht angestiegen, sowohl im häuslichen als auch außer-häuslichen Zusammenhang.
Zur ganz aktuellen Situation in den Notaufnahmen haben wir noch nicht so viele Daten. Mein Eindruck aus der täglichen Arbeit ist allerdings, dass die Zahl der Patienten, die sich mit COVID-19 in der Notaufnahme vorstellen, langsam wieder ansteigt. Die Rate der Patienten, die wir davon stationär aufnehmen steigt derzeit jedoch noch nicht, was sich bei steigenden Infektionszahlen jedoch schnell ändern kann. Wer stationär aufgenommen wird, ist aktuell häufig mit einer der Mutanten infiziert.