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Adipositas-Chirurgie: In Deutschland wird die Chance auf diesen lebensrettenden Eingriff 30 Mal seltener genutzt als in anderen Ländern

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Statement Prof. Dr. Dieter Birk (Bietigheim-Bissingen), Vorsitzender der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft Adipositas-Therapie und metabolische Chirurgie 

Dass die letzte Wortmeldung zum Thema Übergewicht von einem Chirurgen kommt, hat seine Berechtigung. Schließlich gilt die operative Therapie als die „ultima ratio“ in der Behandlung einer Adipositas. Sie ist Patienten vorbehalten, die extrem übergewichtig sind und bei denen alle anderen Möglichkeiten erfolglos ausgeschöpft wurden.

Die schlechte Nachricht ist: Davon gibt es erschreckend viele. In Deutschland gehen wir davon aus, dass rund 1,4 Millionen Menschen einen BMI über 40 haben – das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren. Ein BMI von 40 kg/m2 bedeutet bei einem 1,80 Meter großen Mann, dass er mehr als 130 Kilogramm auf die Waage bringen muss. Bei einer Frau mit 1,60 Metern Körpergröße wären es immer noch über 100 Kilogramm.

Übergewicht senkt Lebenserwartung um bis zu 15 Jahre 

In diesem Stadium von einer schweren Erkrankung zu sprechen, ist keineswegs übertrieben. Abgesehen von der Belastung, die alleine die Körperfülle mit sich bringt, leidet die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen an einer ganzen Reihe von Begleitkrankheiten, allen voran Diabetes und Herz-Kreislauf-Beschwerden. In Summe senkt das die Lebenserwartung dramatisch: Wer schon im Alter von 30 Jahren einen BMI von 40 oder mehr hat, lebt nachweislich zehn bis 15 Jahre kürzer. Im Alter von 45 kostet so viel Körperfett immer noch sieben bis zehn Jahre Lebenszeit.

Operation beseitigt Übergewicht und Begleiterkrankungen 

Die gute Nachricht: Wir können diesen Menschen heute mit einer Reihe von chirurgischen Verfahren effektiv helfen. Mit Methoden wie einem Magenbypass oder einer Magenverkleinerung lässt sich eine Reduktion von 60 bis 80 Prozent des Übergewichts erreichen. Nach fast 15 Jahren angewandter Adipositas-Chirurgie wissen wir mittlerweile auch, dass diese Hilfe nachhaltig ist und diese Effekte auch zehn Jahre nach der Operation erhalten bleiben. Mehr noch: Mit dem Übergewicht verschwinden bei vielen Patienten auch die Begleiterscheinungen. Das Herz-Kreislaufsystem reagiert auf die Entlastung mit deutlichen Verbesserungen. Bei 70 bis 80 Prozent der Patienten, die vor der Operation weniger als fünf Jahre an Diabetes gelitten haben, kommt es innerhalb der ersten fünf Jahre nach der Operation zu einer vollständigen Remission (zeitweises oder dauerhaftes Nachlassen), die sie ohne Insulin auskommen lässt.

Vor diesem Hintergrund ist es mehr als fragwürdig, dass diese Option immer noch vergleichsweise selten genutzt wird. Aktuell führen wir in den rund 50 zertifizierten Adipositas-Zentren gerade einmal 10.000 solcher Eingriffe pro Jahr durch. In Ländern wie Österreich, der Schweiz, Frankreich oder Belgien sind es – umgelegt auf die Bevölkerungszahlen – zehn- bis 30mal mehr.

Das liegt zum einen daran, dass schätzungsweise nur jeder fünfte Betroffene den Ernst seiner Lage erkennt und bereit ist, sich einer solchen – heute laparoskopisch durchgeführten und risikoarmen – Operation zu unterziehen. Das zeigt uns, dass wir die Aufklärungsbemühungen sowohl auf ärztlicher Seite wie auch in der Gesundheitspolitik allgemein deutlich verstärken müssen. Nach wie vor ist die Behandlung einer Adipositas im Abrechnungskatalog gar nicht vorgesehen.

Krankenkassen verweigern oft lebensrettende Therapie 

Noch viel mehr sind die geringen Fallzahlen aber dem äußerst restriktiven Umgang der Krankenkassen mit dem Thema geschuldet. Obwohl die operative Behandlung in diesem Stadium in den gültigen Leitlinien ganz klar vorgesehen ist und jeder Kandidat ohnehin vor der Operation von einem interdisziplinären Medizinerteam begutachtet werden muss, werden die meisten Einzelfallgenehmigungen, oft aus fadenscheinigen Gründen, zunächst einmal verweigert. Aus medizinischer Sicht ist das nicht nachvollziehbar und absolut inakzeptabel: Ein BMI von 40 in Kombination mit einer kardiovaskulären Erkrankung und einem Diabetes reduziert die Lebenserwartung etwa so wie ein Dickdarmkarzinom – das selbstverständlich in jedem Fall und ohne vorherige Prüfung durch die Kassen operiert wird.

Dass so etwas möglich ist und die Betroffenen immer noch über keine schlagkräftige Lobby verfügen, hat natürlich mit immer noch weit verbreiteten Vorurteilen zu tun. Viele meinen, diese Patienten seien letztlich doch „selbst schuld“ und „bräuchten doch nur weniger zu essen“. Dabei wissen wir aus zahlreichen Studien, dass sowohl psychische und soziale wie auch genetische und hormonelle Faktoren bei der Entstehung von Übergewicht eine Rolle spielen. Zudem ist ab einem gewissen Stadium auch organisch ein „point of no return“ erreicht, ab dem Diäten nicht mehr – oder allenfalls kurzfristig – wirken. Der Körper, der Fettvorräte evolutionär bedingt als Schutz und nicht als Bedrohung versteht, stellt sich hormonell auf das bereits erreichte Maximalgewicht ein, und versucht diesen vermeintlichen Idealzustand immer wieder zu erreichen.

Mein abschließender Appell richtet sich daher an die Betroffenen selbst: Solange dieser inakzeptable Zwang zur Einzelfallgenehmigung besteht, lohnt es sich, gegen abschlägige Entscheidungen vorzugehen. Wie die Praxis zeigt, reicht oft ein einziger Brief eines Anwalts, um die Gremien zum Umdenken zu bewegen. Und wer solche Bescheide vor den zuständigen Sozialgerichten bekämpft, bekommt in neun von zehn Fällen Recht – und damit die Chance auf eine lebensrettende Behandlung.