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Kranken- und Gesundheitsversorgung auf dem Prüfstand – Statement von Prof. Dr. Holger Pfaff / Köln

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Kranken- und Gesundheitsversorgung auf dem Prüfstand

Statement von Prof. Dr. Holger Pfaff / Köln

Zur Sicherung qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung erstellen Fachgesellschaften regelmäßig Leitlinien, die wichtige Entscheidungshilfen für die Behandlung zahlreicher Erkrankungen liefern. Leider orientieren sich nach wie vor zahlreiche Ärzte nicht an diesen Leitlinien und kennen sie oft gar nicht. Warum das so ist, soll – neben vielen anderen Fragestellungen – die Versorgungsforschung klären.

Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften wird Medizin auch durch eine Handlungs-Dimension charakterisiert. Das bedeutet, dass sich Medizin nie auf den Erkenntnisgewinn zu Krankheiten und deren Behandlung beschränken darf, sondern immer auch die praktische Umsetzung im Blick haben muss. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Umsetzung ist die medizinische Versorgung, die darin besteht, medizinisches Wissen und Handeln zu den Menschen zu bringen, die es benötigen.

Die medizinische Versorgung unterliegt eigenen Mechanismen, die oft wenig mit den naturwissenschaftlichen Hintergründen der Heilkunde zu tun haben. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Mechanismen heißt Versorgungsforschung und kann definiert werden als problemorientierte, fachübergreifende Forschung, welche die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt und kausal erklärt sowie aufbauend darauf Versorgungskonzepte entwickelt, die Umsetzung von Versorgungskonzepten begleitend erforscht und unter Alltagsbedingungen evaluiert („effectiveness“).

Gerade die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie hat sich besonders um die Versorgungsforschung verdient gemacht. Wie wenig die real existierende Versorgung mit dem theoretisch Machbaren und Wünschenswerten zu tun hat, zeigen zahlreiche Studien der kardiologischen Versorgungsforschung. So wurde schon vor drei Jahren die so genannte MITRA-Trias beschrieben, die die paradoxe Situation von Menschen mit besonders hohem Herzinfarkt-Risiko hervorhebt. Diese Patienten werden nämlich in der Regel nicht in klinische Studien aufgenommen. Und obwohl es reichlich Hinweise darauf gibt, dass Hochrisikopatienten am meisten von diversen Therapien profitieren, erhalten sie im Klinikalltag seltener eine Therapie als Niedrigrisikopatienten. Die kardiologische Versorgungsforschung hat damit gezeigt, dass die Wirkung einer Therapie im Versorgungsalltag nicht – wie oft angenommen – zwangsläufig schwächer ausfallen muss als im klinischen Versuch.

Ein weiteres Problem ist, dass Leitlinien, die von nationalen und internationalen Fachgesellschaften entwickelt werden, häufig nicht im klinischen Alltag ankommen. Man spricht in diesem Zusammenhang von Leitlinien-Implementierung und -Diffusion. Diese zu untersuchen, ist eines der Teilgebiete der Versorgungsforschung. Leider ist eine der bisher gewonnen Einsichten, dass es nicht einfach ist, Leitlinien an den klinisch tätigen Kollegen zu bringen. Eine Studie von Hagemeister et al. aus dem Jahr 2008 zeigt, dass es auch mit verschiedenen Interventionen wie zum Beispiel Fortbildungsseminaren nicht gelingt, die Leitlinien-Kenntnisse in der Ärzteschaft auf ein zufriedenstellendes Niveau zu bringen. Offenbar gibt es hier also Verbesserungsbedarf und ein breites Betätigungsfeld für die Versorgungsforschung.

Ob eine bessere Leitlinienkenntnis allerdings zu einer anderen Behandlung der Patienten führt, stellt eine neue Studie von Karbach et al. aus dem Jahr 2011 in Frage. Diese Studie zeigt, dass die Leitliniennähe hausärztlicher Therapien nicht mit dem Leitlinienwissen der Ärzte zusammenhängt. Die Wissenschaftler vermuten, dass Gewohnheiten und Routinen in der täglichen Verordnungspraxis eine viel größere Rolle spielen als das konkrete Wissen des Arztes.

Wichtige Fragestellungen der Versorgungsforschung beschäftigen sich auch mit der Inanspruchnahme von Präventions- und Therapieangeboten. Für die Kardiologie heißt das konkret: Wie kann man die Inanspruchnahme von kardiologischen Modell-Programmen bei besonderen Gruppen wie zum Beispiel Migranten verbessern? Daten aus den USA zeigen hier massiven Handlungsbedarf auf. So konnte in Studien beispielsweise gezeigt werden, dass Afroamerikaner und Personen lateinamerikanischer Herkunft einerseits selbst weniger Kompetenz im Umgang mit ihrer Erkrankung besitzen, andererseits aber auch bei schweren Krankheiten wie Diabetes oder Herzinsuffizienz seltener dem Stand der Wissenschaft entsprechend behandelt werden. Wie weit sich solche Ergebnisse auf europäische Verhältnisse umlegen lassen, ist noch unklar und Gegenstand zukünftiger Versorgungsforschung.

Kontakt:
Prof. Dr. Holger Pfaff
Zentrum für Versorgungsforschung Köln (ZVFK)
Medizinische Fakultät der Universität zu Köln
Eupener Str. 129
50933 Köln
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E-Mail: holger.pfaff@uk-koeln.de

 

Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz und Kreislaufforschung e.V. (DGK) mit Sitz in Düsseldorf ist eine gemeinnützige wissenschaftlich medizinische Fachgesellschaft mit heute mehr als 7800 Mitgliedern. Ihr Ziel ist die Förderung der Wissenschaft auf dem Gebiet der kardiovaskulären Erkrankungen, die Ausrichtung von Tagungen und die Aus-, Weiter- und Fortbildung ihrer Mitglieder. 1927 in Bad Nauheim gegründet, ist die DGK die älteste kardiologische Gesellschaft in Europa. Weitere Informationen unter www.dgk.org.