Molekulargenetische Diagnose angeborener Herzerkrankungen durch Next-Generation-sequencing: Erste Ergebnisse der Biobank für Kardiomyopathien Ulm (BCMU)
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Dr. Michael Baumhardt und PD. Dr. Alexander Pott, Ulm
Zwei Schwestern, Zwei Mutationen – ein Schicksal?
Eine junge Frau, Anfang zwanzig Jahre alt, leidet bei der Erstvorstellung in der Abteilung Innere Medizin II (Kardiologie, Angiologie, Pneumologie, Internistische Intensivmedizin sowie Sport- und Rehabilitationsmedizin) am Universitätsklinikum Ulm an einer schweren Herzschwäche. Eine molekulargenetische Untersuchung offenbart, was bereits vermutet wurde – Bei der jungen Frau findet sich eine krankheitsauslösende Mutation. Eine Umfeld-Diagnostik diagnostiziert auch bei der jüngeren Schwester dieselbe Mutation. Kaum erreicht ihre jüngere Schwester das Alter der Erstmanifestation, entwickelt auch sie eine Herzinsuffizienz. Im Verlauf erleidet die ältere Schwester einen Sekundenherztod, der mit Hilfe eines implantierbaren Defibrillators (ICD) überlebt wurde.
Inzwischen ist für die junge Frau aufgrund des schweren Verlaufs eine Herztransplantation geplant. Ob der kleinen Schwester dasselbe Schicksal droht, ist ungewiss. Zwar liegt bei den Geschwistern derselbe Genotyp vor, aber die Ausprägung des genetischen Merkmals in Form einer klinischen Krankheit, der sogenannten Phänotyp, kann sich dennoch unterscheiden.
Der Fall zeigt klar auf, wie wichtig eine detaillierte Aufarbeitung eines solchen Sachverhaltes ist, um betroffenen Patient*innen und Familien eine möglichst genaue Aussage über die Konsequenzen sowie die weitere Therapie und Prognose machen zu können und ggf. weitere Betroffene zu identifizieren.
Entwicklung eines standardisierten diagnostischen Vorgehens
Durch die sorgfältige Besprechung ebendieser Fälle im Rahmen der Spezialsprechstunde „genetisch-bedingte Herzerkrankungen“ sowie im Zentrum für seltene Erkrankungen (ZSE) des Universitätsklinikums Ulm durch die beiden Studienautoren PD Dr. med. Alexander Pott sowie Dr. med. Michael Baumhardt entwickelte die Arbeitsgruppe ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen für Patienten mit Hinweisen auf erbliche Herzerkrankungen, welches in der „Biobank of Cardiomyopathies Ulm“ (BCMU) wissenschaftlich gesammelt und aufgearbeitet wird. Des Weiteren soll durch das Forschungsprojekt der Zusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp untersucht werden.
Die genetische Analyse eines umfassenden Gen-Panels ist der Schlüssel
Die Forscher untersuchten hierbei 184 Patient*innen, welche zwischen 2018 und 2021 am Universitätsklinikum Ulm vorstellig wurden, eine Palette von 143 Genen, welche in Verbindung mit angeborenen Herzerkrankungen stehen. In Kooperation mit dem Institut für Humangenetik der Universitätsmedizin Ulm benutzt die Arbeitsgruppe hierzu fortschrittliche molekularbiologische Methoden wie das Next-Generation-Sequencing (NGS), eine breit angelegte und zeiteffiziente Technik zur Detektion genetischer Auffälligkeiten. Die Patient*innen litten in der Studie unter Kardiomyopathien (132/184 Fälle, 72 %), Arrhythmie-Syndromen (41/184 Fälle, 22 %) oder hatten einen plötzlichen Herztod überlebt (11/184 Fälle, 6 %).
Nach sorgfältiger Auswertung sämtlicher genetischen Veränderungen und dem Vergleich mit vorbekannten Mutationen in einschlägigen Datenbanken wurden die gefundenen Mutationen entsprechend dem aktuellen Kenntnisstand hinsichtlich ihrer Pathogenität aufgeschlüsselt. So sind einige Mutationen bereits als krankheitsauslösend bekannt, andere wiederum stehen nur im Verdacht, Krankheiten auszulösen oder werden gegenwärtig hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz intensiv beforscht.
In 101 von 184 Fällen (55 %) konnten Auffälligkeiten in den betroffenen Genen gefunden werden. Hiervon wiesen 52 von 184 Patient*innen (28 %) pathogene oder wahrscheinlich pathogene Mutationen auf, bei weiteren 49 von 184 Patient*innen (27 %) ließen sich Mutationen nachweisen, deren Relevanz aktuell noch unklar ist. Bei 29 von 184 Patient*innen (16 %) ließen sich Mutationskombinationen (sog. Compound-Mutationen) nachweisen, welche ebenfalls Gegenstand aktueller molekulargenetischer Forschung sind.
Die häufigsten genetischen Mutationen fanden sich bei Dilatativer Kardiomyopathie (DCM) im TTN-Gen, bei Hypertropher Kardiomyopathie (HCM) im MYBPC3-Gen, bei Arrhythmogener Rechtsventrikulärer Kardiomyopathie (ARVC) im PKP2-Gen, beim Brugada-Syndrom (BrS) im SCN5A-Gen sowie beim Long-QT-Syndrom (LQTS) im KCNH2-Gen. Bei Patienten mit überlebtem plötzlichem Herztod fand sich als häufigste Genmutation das DSC2-Gen, gefolgt vom SCN5A-Gen.
Diese und andere Mutationen untersuchen die Ulmer Wissenschaftler bereits seit Jahren auch im Zebrafisch-Tiermodell, welches eine exzellente Erforschung kardiovaskulärer Erkrankungen, v.a. genetischer Erkrankung des Herzens ermöglicht. Einige Zusammenhänge der genetischen Grundlagen von Herzrhythmusstörungen konnten so bereits durch PD Dr. Pott und seinem Team aufgeklärt werden.
Was bringt die Zukunft?
Die einheitliche genetische Teststrategie der Ulmer Forscher bei Patient*innen mit einer möglicherweise vererbbaren kardialen Grunderkrankung identifizierte in über der Hälfte der Fälle genetische Auffälligkeiten. Dies war nur durch eine umfassende Aufarbeitung mit Hilfe neuer molekularbiologischer Methoden wie dem Next-Generation-Sequencing möglich. Die weitere Erforschung und präzise genetische Charakterisierung weisen den Weg in Richtung einer individualisierten Therapie angeborener Herzerkrankungen, wie es bereits in Mutationen bei onkologischen Patienten Alltag ist.
Die beiden Schwestern werden seit Diagnosestellung engmaschig in der Spezialambulanz des Universitätsklinikums Ulm betreut, ihre Kardiomyopathie wird leitliniengerecht behandelt. Durch die genetische Diagnostik der direkten Angehörigen und die hieraus resultierende frühzeitige Diagnose der jüngeren Schwester erhoffen sich alle Beteiligten einen milderen Krankheitsverlauf.
Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz und Kreislaufforschung e.V. (DGK) mit Sitz in Düsseldorf ist eine gemeinnützige wissenschaftlich medizinische Fachgesellschaft mit fast 11.000 Mitgliedern. Sie ist die älteste und größte kardiologische Gesellschaft in Europa. Ihr Ziel ist die Förderung der Wissenschaft auf dem Gebiet der kardiovaskulären Erkrankungen, die Ausrichtung von Tagungen die Aus-, Weiter- und Fortbildung ihrer Mitglieder und die Erstellung von Leitlinien. Weitere Informationen unter www.dgk.org